„Less Tech – More Experience“

Er gilt immer noch, der alte Designer-Leitsatz, nach dem die Form der Funktion zu folgen hat. Doch was ist die Funktion eines Marken-Onlineshops in Zeiten von Multichanneling und No-Line-Commerce? Und was folgt daraus für die Form?  Antworten von Tim Böker, Experte für Online „User Experience Design“ und Geschäftsführer des auf eCommerce spezialisierten Design-Unternehmens „Kommerz“.

„Wer die Inszenierungen in den stationären Flagshipstores von Esprit kennt und dann den Onlineshop der Marke besucht, könnte glauben, er habe sich im Digitalen verirrt. Während offline warme Farben vorherrschen und die emotionale Ansprache des Kunden zur Hochform stilisiert wird, herrscht online Eisschrank-Atmosphäre. Offline wie zufällig an die Wand gepinnte Schnappschüsse von Menschen, die mit der Kamera flirten – online unpersönlich-coole Profi-Models ohne jeglichen optischen Kontext. Offline sympathische Unordnung und ein per Hand beschriftetes, schief hängendes Schild mit der Botschaft „If you feel good, you look good!“ – online akkurat aneinandergefügte Kästchenbilder auf nüchtern weißem Grund. Eine Marke, zwei völlig unterschiedliche Auftritte. Wiedererkennung, Online-Inszenierung? Vergiss es.

Eigentlich ist es ein absolutes `NoGo´, was sich heute in den meisten Marken-Onlineshops an die Öffentlichkeit traut: Gleichförmigkeit auf breiter Front, ein geradezu erschreckender Mangel an Ideen und Kreativität, kühles Technokraten-Layout statt emotionaler Anziehungskraft – von Markenpflege ganz zu schweigen.

Roter Faden: Langeweile

Das beginnt meist schon bei der Startseite: ein großformatiges Bild, wahlweise über die ganze Contentbreite oder noch mit Platz für eine Seitenleiste, ein paar Kästchen drunter, eine Leiste oben und gegebenenfalls eine weitere seitlich. Für „Dynamik“ sorgt allenfalls noch ein freihändig eingestreuter Textbaustein. Fertig. Der rote Faden heißt Langeweile.
Gelegentlich – und wenn ein farblich und in der Anmutung passendes Aufmacherfoto zur Verfügung stand – spiegelt die Startseite noch einigermaßen das stationäre Erscheinungsbild der Marke. Einen Klick weiter allerdings ist es meist schon vorbei mit der schönen Markenwelt: Wenig erkennbares Nutzen der Markenkraft, kein Wiedererkennen der teuren Plakat- und Fernsehwerbung, von klarer Markeninszenierung ganz zu schweigen.

Dem aufmerksamen Beobachter drängt sich der Verdacht auf, hier wird allzu häufig schlicht kopiert nach dem Motto: Zalando funktioniert, also machen wir einen Onlineshop nach dem gleichen Muster, nur mit unserem Logo. Dass man damit zwangsläufig seine eigene Marke verwässert –  eigentlich logisch.

Dass es auch anders geht, zeigt zum Beispiel Burberry: Hier verschmilzt die aufwändig inszenierte Welt der stationären Stores mit der digitalen Welt. Und das nicht nur optisch – hier wird Multichanneling gelebt und zum Nutzen des Kunden und der Marke umgesetzt. Hier werden Geschichten erzählt und großformatige Videosequenzen eingeblendet, das Look and Feel der Flagshipstores in den Metropolen dieser Welt – hier findet es sich wieder.

Online-Auftritt als Content Cloud

Fakt ist: Wer den Multichannel-Ansatz konsequent fahren will, wird nicht umhin kommen, die Basis-Inhalte online verfügbar zu machen. Im Grunde geht es bei der Verknüpfung von On- und Offline darum, den Online-Auftritt als Content Cloud zu nutzen, aus der sich die Offline-Stores bedienen – mit Optik, Inhalten und Services.

Stimmt die Markeninszenierung in der Cloud, wird daraus auf den Bildschirmen im stationären Shop eine perfekte Multichannel-Produktinszenierung. Gleiches gilt, wenn eine Marke irgendwo auf der Welt einen neuen Flagshipstore eröffnet, eine Modenschau oder ein anderes Live-Event inszeniert. Was liegt näher, als dieses Event in allen Shops live auf die Instore-Screens zu übertragen? So lässt sich die eine Inszenierung in Tokio oder Shanghai auch in London, Hamburg oder New York zur Imagepflege nutzen.

Natürlich lässt sich auch der Service mit einem guten Multichannel-Ansatz optimieren. Sucht ein Kunde beispielsweise am Samstag im proppevollen Store nach einem bestimmten Produkt und findet das nicht in den Regalen, braucht er nicht zu warten, bis ein Verkäufer frei ist. Er sucht einfach auf dem Online-Terminal im Store oder auf dem Smartphone. Ist der Onlineshop gut gepflegt, wird er es nicht nur finden, sondern auch gleich erfahren, ob das gute Stück in diesem Shop am Lager ist. Falls ja, lohnt sich das Warten. Falls nein, kann er es sofort bestellen oder reservieren und in den Shop seiner Wahl – oder nach Hause – liefern lassen. So muss Multichannel-Service funktionieren.

Digitale Attraktionen kreieren

Die Herausforderung für Online-Markendesigner ist klar: Sie müssen die Voraussetzungen schaffen, indem sie zuallererst digitale Attraktionen kreieren, die den Kunden emotional ansprechen. Sie müssen ihn in eine Umgebung entführen, in der er sich sofort wohlfühlt und die er intuitiv erforschen kann. Dass da rational geprägte Erfahrungen eher stören, liegt auf der Hand. Wer denkt, blockiert seine Gefühlswelt.

Der digitale Metastore muss dem Kunden überall und jederzeit eine adäquate Markeninszenierung bieten. Gefragt sind Unterhaltung und Spaß, Appetitanreger, Kaufanreize und Mehrwert. Erlebniswelten, die die Alleinstellungsmerkmale der Marke sympathisch und klar vermitteln.

Wichtig sind außerdem eine hohe Informationstiefe – der Kunde findet idealer Weise online alles, was er für eine Kaufentscheidung braucht, egal, ob er dann online oder offline kauft. Multichannel eben. Dies führt dazu, dass sich die Verzahnung zwischen Online und Offline in möglichst vielen Details und Mehrwert-Erlebnissen niederschlagen sollte – siehe Burberry. Das Ganze dann noch auf alle Kunden-Touchpoints hin optimiert: stationär, für den Desktop-PC, für Laptop, Tablet, Smartphone und welches Device in Zukunft sonst noch hinzukommen mag.

Die vielzitierte USP wird zur UEP – zur Unique Experience Proposition. Will sagen: Der Kunde bekommt immer Impulse geliefert, die ihn in genau die Gefühlslage versetzen, die er mit der Marke in Verbindung bringen soll. Kurz: Weniger Technik – mehr Erlebnis, oder neudeutsch: „Less tech – more experience“.

Damit diese Botschaft direkt, intensiv und ungefiltert wirkt, muss alles stimmen: Design, Emotion, Nutzerführung. Man denke nur daran, wie man sich fühlt, wenn in einem Mega-Konzert mit stimmiger Lichtinszenierung plötzlich die Lightshow oder das Mikro des Sängers ausfällt. Das ganzheitliche Erlebnis ist futsch. So auch im Onlineshop: Alles muss reibungslos funktionieren, die Links müssen sitzen, da darf nichts ruckeln, und der Kunde sollte Ladezeiten am besten überhaupt nicht wahrnehmen.

Beispiele gefällig?
–    Burberry: Die absolute Verzahnung von Online und Stationär. So geht No-Line (www.burberry.com)
–    Gant: Gutes Storytelling (www.us.gant.com)
–    norman copenhagen: tolle Produktinszenierung (www.normann-copenhagen.com)
–    fab.com: impulsives Shopping und interessante Features (www.fab.com)
–    Pull & Bear / Zara: verschiedenste Produktzugänge (www.pullandbear.com)
–    reserved: Shopping aus Kampagnen heraus (www.reserved.com)
–    INDOCHINO: Responsive Design ohne Kompromisse (www.indochino.com)

Generell lässt sich feststellen, dass Onlineshops von anderen Websites und Social Networks noch viel in Sachen Nutzerführung und Microinteraction, also der kreativen, sorgfältigen und liebevollen Ausgestaltung von Details, lernen können.

Noch ist keins der oben genannten Beispiele ein makelloses Musterbeispiel dafür, was Online-Markendesign kann und soll. Aber sie zeigen, in welche Richtung das Ganze geht – und dass die ersten Anbieter längst dorthin unterwegs sind.

Wozu das alles? Die Entwicklung des stationären Handels in den vergangenen 20 Jahren zeigt: In Zeiten von Überangebot und Verdrängungswettbewerb gewinnen starke Marken. Wie Online-Handel funktioniert, hat die Branche und haben die Kunden gelernt. Technik und Funktionalität sind selbstverständlich geworden. Jetzt gilt es, die im stationären Umfeld gelernten Markeninszenierungen in die Onlinewelt zu übertragen. Rasch, denn die Digitalisierung ist der Turbo für unseren Alltag, und sie diktiert mehr und mehr die Rahmenbedingungen des Handels. Und wer zu spät kommt, den bestraft der Kunde. Dazu das alles.“